Wie spreche ich?
Lucie ist Musiklehrerin. Sie hört deshalb besonders genau hin, wenn ich Tschechisch spreche, und bleibt dabei selten ernst. „Es ist wirklich nicht böse gemeint“, sagte sie neulich lachend. „Aber dein Tschechisch … weißt du, deine Grammatik ist eigentlich sehr gut. Nur, du hast so einen lustigen Akzent, und das klingt so … so … also, bei uns sagt man dazu ‚roztomilý‘!“
Ich konnte mit diesem Wort zunächst nichts anfangen, weil es in meinen Ohren zugleich positiv und negativ klang. Die Vorsilbe „roz-“ kenne ich nämlich von Verben, die oft eine heftige, wenn nicht gar gewalttätige Handlung bezeichnen, oder zumindest eine Handlung, bei der Dinge oder Menschen getrennt oder auseinandergerissen werden. „Rozejít se“ sagt man, wenn ein Paar künftig getrennte Wege geht, „rozloučit se“ bedeutet „sich verabschieden“, und wenn ich mir im Restaurant eine Portion mit jemandem teilen will, verwende ich das Verb „rozdělit si“. Das sind die harmlosen. Es gibt aber auch „rozdrtit“, „zermalmen, zerstampfen“, „rozkousnout“, „zerbeißen“, oder „rozlomit“, „zerbrechen“.
Der andere Wortteil, den ich verstand, „milý“, klang mir dagegen sehr nett im Ohr, weil er genau das bedeutet: „nett“ oder „lieb“.
Nur, was hatte das Wort insgesamt zu bedeuten? Ich begann, nach ihm zu fahnden. Zuerst im Wörterbuch. „Liebenswürdig“, „entzückend“, „reizend“, fand ich bei Langenscheidt. Das half mir zwar ein wenig weiter, ließ aber die Frage offen, was denn daran so lustig ist, wenn jemand liebenswürdig klingt. Ich tippte „roztomilý“ ins Online-Wörterbuch von seznam.cz ein und bekam die Auskunft „goldig“, „niedlich“, „putzig“. Allmählich begann ich, eine Ahnung zu bekommen … trotzdem war ich noch nicht zufrieden. Auf Wörterbücher verlasse ich mich nicht mehr hundertprozentig, und außerdem versteht man ein Wort erst dann richtig, wenn man es in verschiedenen Zusammenhängen kennenlernt.
Mein letzter Blogtext fiel mir ein. Was hatte mein Übersetzer aus der süßen Maus Isabella gemacht? Aha, eine „roztomilá kočka“ … aber was mich betrifft, so bin ich wohl doch eher ein Kater als eine Katze.
Ich holte meine Sammlung tschechischer Kinderbücher aus dem Regal. Beim kleinen Maulwurf fand ich das Wort nicht, obwohl ich es dort am ehesten erwartet hätte. Ich schlug das Buch mit den Märchen vom Meereskobold auf. Zwölf musste ich durchlesen, bis ich in der Geschichte vom Zauberfingerhut fündig wurde: Der armen Schneiderin Madlenka begegnet im Wald eine Alte, die um ihre Hilfe bittet, weil sie Röckchen nähen muss für ihre lieben Töchterlein, die „roztomilé lesní víly“. „Lesní víly“ sind Waldfeen – nur, welches deutsche Adjektiv passt für sie am besten? „Liebenswürdig“ auf gar keinen Fall. „Entzückend“ auch nicht. Am ehesten wohl „niedlich“ … Aber egal, wie man es übersetzt – wollte Lucka mir vielleicht sagen, dass ich wie eine zauberhafte Waldfee klinge, wenn ich Tschechisch spreche? Einen Moment lang war ich von mir selbst und meinem märchenhaften Charme ganz hingerissen. Doch dann dämmerte mir, wie komisch das sein muss – ein grauhaariger Herr Anfang fünfzig, der wie eine putzige kleine Waldfee spricht.

